Der Wiener Arzt und Psychotherapeut Alfred Adler (1870—1937) war Teilnehmer der frühen »Mittwochabendgesellschaft« von Sigmund Freud (1856—1939), ging aber bald eigene Wege und entwickelte seine Individualpsychologie, die im »Roten Wien« der 1920er-Jahre einen großen Einfluss ausübte und auch in die Philosophie wirkte, da er »Heilen und Bilden« als Einheit begriff und in der Volksbildung aktiv wurde.
In seinen Studien zum Menschen verfolgt Adler einen psychosomatischen Ansatz in der Überzeugung, dass körperliche und seelische Vorgänge stark aufeinander einwirken. Ausgehend von »()rganminderwertigkeiten«, die es auszugleichen gelte, entwickelte Adler seinen Zusammenhang von Minderwertigkeitsgefühl — heute besser als Minderwertigkeitskomplex bekannt und Kompensationsstreben, das er »Geltungsstreben« nannte. DerMinderwertigkeitskomplex führe zum Gefühl der eigenen Unvollkommenheit und Unzulänglichkeit, welches oft durch besondere Zielstrebigkeit und Hartnäckigkeit im Drang nach Geltung kompensiert werde. Spätere Denker sahen im Minderwertigkeitskomplex eine wesentliche Ursache für Diskriminierungen, Kriege und Revolutionen, im Kompensationsstreben aber auch einen wesentlichen Antrieb für kulturelle Leistungen und Neuschöpfungen.